Holotrope Atemarbeit nach S. Grof in der stationären Psychotherapie
Von der Workshop-Kultur zur klinischen Praxis
Einleitung
Neben der an Universitäten gelehrten Schulmedizin hat sich in den letzten zwei Jahrzehnten in den westlichen Industrieländern und den Metropolen der Dritten Welt eine Palette an Heilweisen etabliert, die als Alternativmedizin bezeichnet werden. Einige davon haben (in zumeist reduzierter Form) Eingang in die ärztliche Praxis gefunden (z.B. Homöopathie, Akupunktur, Neuraltherapie, anthroposophische Medizin, Phytotherapie). Sie bleiben insofern konventionell, als weiterhin ein Spezialist auf mehr oder weniger mechanisch-manipulative Weise an einem „Patienten“ hantiert, um dessen Symptome zu beseitigen.
Heilweisen, die sich aufgrund der zu ihrer Ausübung notwendigen Selbsterfahrungsprozesse nicht in der für die biomedizinische Praxis typischen Abspaltung der psychosozial-spirituellen Dimension von Gesundheit und Krankheit mechanisch erlernen und praktizieren lassen, treffen noch immer auf Skeptizismus. Da sie zudem nicht in das räumliche, zeitliche und ökonomische Korsett des konventionellen Praxis- und Klinikbetriebes passen, werden sie im Rahmen privater „Zentren“, in Seminar- und Gesundheitshotels, in Abend-, Wochenend- und Jahresgruppen angeboten.
Ziel dieses Beitrages ist es, am Beispiel des holotropen Atmens nach S. Grof Möglichkeiten und Grenzen der Einführung psychospirituell basierter Heilweisen, ihres gesundheitstheoretisch-philosophischen Kontextes und anderen Elementen des informellen Gesundheitssystems in konventionelle Einrichtungen (hier: psychosomatische und psychiatrische Kliniken) zu erörtern. Die Wahrscheinlichkeit, daß die auf einem biologistischen Menschenbild aus dem 17 Jhd. basierte Schulmedizin wie auch (psychiatrische) Kliniken, welche auf’s Engste mit Kapitalinteressen (Apparatetechnik, Pharmakonzerne, Haustechnik) und autoritäraggressiv agierendem Expertentum assoziiert sind, die Ausbreitung von Heilweisen fördern werden, die wie das holotrope Atmen auf selbstregulativen Prozessen, veränderten Bewußtseinszuständen und damit verbundenem Sich-Öffnen für das Wirken einer höheren Instanz, dem Akzeptieren und Fördern emotionaler Prozesse und einer Sicht vom „Patienten“ als Experten für seine Heilung beruhen, ist zweifellos gering.
Konsequente Praxis, wird wie auch meine eigenen Erfahrungen erwiesen haben immer wieder von Widerstand, Verleumdungen und Ausstossung begleitet sein. Der Folgerung, dass es von vorneherein sinnlos sei, holotrope Therapien in Institutionen des orthodoxen Medizinbetriebes zu praktizieren, möchte ich mich deshalb nicht anschliessen, da historisch gesehen alle Neuerungen, die ein herrschendes Paradigma verlassen, diesem Prozess unterliegen. Er spiegelt selbst die typischen Phasen und Muster eines Geburtsprozesses wieder: man erlebt in Institutionen dann eine unentrinnbar erscheinende Hölle, gefolgt von Kampf und schliesslich Erlösung beim Austritt aus ihnen. Nur wer sich auch diesen in der äusseren Realität sich vollziehenden Prozessen gestellt und sie durchlebt hat, wird in gesellschaftlichem Rahmen entsprechende Veränderungsprozesse unterstützen können.
Die heute weit verbreitete solipsistische Praxis im privaten „Zentrum“ symbolisiert eher das Verweilen in einem (illusionären) Uterus, da kaum jemand mit spirituellen Heilweisen seinen Lebensunterhalt bestreiten kann und dann durch einen „bürgerlichen Beruf“ ohnehin von der orthodoxen Gesellschaft mitgetragen wird. Ihm verbleibt nur die trügerische Hoffnung darauf, dass sich „von selbst alles ändert, wenn das System zusammenbricht“.
Im Sinne eines Szenarios werde ich zunächst
- typische Settings, Heilweisen und kognitive Schemata (Weltbilder, Glaubensüberzeugungen) der New-Age-Philosophie kurz skizzieren
- soziodemographische Merkmale der Teilnehmer an Therapiemethoden aus dem informellen Gesundheitsbereich umreissen und
- exemplarisch an der holotropen Atemarbeit (holotropic breathwork) von Stan Grof Unterschiede zwischen konventionellem Klinik- und workshop-Setting sowie daraus folgende Anpassungsmöglichkeiten darstellen.
Die aufgezeigten Probleme und Folgerungen basieren auf meiner sechsjährigen Tätigkeit als klinischer Psychologe an einer psychiatrischen Großklinik, wo ich während zwei Jahren Erfahrungen bei der Einführung des Holotropen Atmens sammeln konnte. An dieser Stelle beschränke ich mich dabei auf Aspekte der institutionellen Rahmenbedingungen, die Veröffentlichung von Beispielen konkreter Behandlungsverläufe ist geplant.
1. Die informelle Gesundheitskultur:
Im Gegensatz zum ärztlich dominierten Diskurs um Alternativmedizin (worunter meist ein-zelne Methoden verstanden werden, ferner Fragen der „Wissenschaftlichkeit“, der Anwendungshäufigkeit bei Ärzten und Patienten mit schulmedizinisch definierten Erkrankungen, vgl. ANDRITZKY 1994) habe ich nach einer Analyse der Komponenten den Begriff einer informellen Gesundheitskultur entwickelt (ANDRITZKY 1997), die sich seit etwa 20 Jahren auch in Deutschland herausgebildet hat. Die Analyse ihrer Wirkdimensionen ist Vorbedingung für eine künftige Forschung, die Wirkfaktoren nicht mehr in personenunabhängigen Methoden, sondern in komplexen Settings, philosophischen Grundeinstellungen, spiritueller Öffnung der Therapeuten und der Beziehungsqualität ansiedelt. Beschreibbare Elemente der informellen Gesundheitskultur sind u.a.:
1.1. Ein zur Schulmedizin alternatives philosophisches Paradigma, hier als „New-Age-Philosophie“ bezeichnet. Es besteht aus:
- einem physikalischen Paradigma (u.a. Einsteins Relativitätsheorie, Max-Planck’s Quantentheorie, Bell’s Theorem), das gegenüber dem Newton’schen, mechanistischen Weltbild (Körper, Kräfte) neue Konzepte von Raum und Zeit, vom Verhältnis von Energie und Materie (aus der subatomaren Physik) aufweist und darüber traditionelle, religiöse und spirituelle Philosophien und Praktiken gleichsam mit neuer Rationalität versieht (vgl. CAPRA 1980:13)
- einer systemtheoretischen Perspektive, in der alle Seinsbereiche miteinander verbunden und vernetzt sind, ähnlich wie in den schamanischen Kosmologien (Ganzheitlichkeit, Holis-mus). Gesundheitsbezogenes Geschehen und Handeln kann hier a priori nicht mehr getrennt von den Einflüssen bzw. der Gestaltung der natürlichen und sozialen Umwelt gesehen werden, es vollzieht sich in dissipativen Strukturen und selbstorganisierenden Prozessen, die lediglich einer gewissen Energiezufuhr von aussen bedürfen, um ihre formbildenden Kräfte zu aktivieren (JANTSCH 1982).
- dem Erfordernis persönlicher Transformation, d.h. dem Bedeutsamwerden dieser neuen Weltsicht auf dem Wege entsprechender eigener Erfahrungen. Dieses persönliche Gewahrwerden einer schamanischen Teilhabe an und Verantwortung für die Schöpfung, dem die in den Zentren der New-Age-Bewegung (z.B. Esalen, Naropa-Institut/Boulder, Californian Institute for Integral Studies/San Francisco) während der 70er Jahre entwickelten Psychotechniken dienen sollten, wird letztlich zum Kriterium von Gesundheit. FERGUSON (1980:99ff) hat die vier Phasen dieses Transformationsprozesses treffend charakterisiert als (1) den Einstieg (zufälliges Schlüsselerlebnis, spontane mystische oder psychische Erfahrung), (2) die Erforschung (bewußtes Loslassen, gleichzeitig heftige Konflikte alter und neuer Orientie-rungen), (3) Integration („ein neues Selbst in einer alten Kultur“) und (4) die Verschwörung (Anwenden der neuen Einsichten und Fähigkeiten im Dienste des Mitmenschen, sich als Teil eines Netzwerkes begreifen).
Dieser Paradigmenwechsel vom mechanistisch-biologistischen Weltbild, dem die Schulmedizin in ihrer Alltagspraxis bis heute verpflichtet ist, zu einem spirituell-biopsychosozialen Weltbild hat weitreichende Konsequenzen für die Gesundheitspraxis: Die Betonung liegt nun auf Selbstheilung, Selbstverantwortung, dem Hören auf die innere Stimme und introspektiver Erkenntnisgewinnung, Wertschätzen subjektiver Interpretation von Krankheit im Gegensatz zur Unterwerfung unter „Expertenwissen“, der Heiler wird zum facilitator, metaphorische Weisheiten und spirituelle Erfahrungen werden zum Angelpunkt von Neuorientierung, die in der Sprache symbolisch verkapselten Funktionsweisen von Körperzonen und Organen (vgl. DAHLKE 1996), Krankheit als Weg – Symptome als Wegweiser (vgl. DETHLEFSEN & DAHLKE 1983) werden zu weithin akzeptierten Interpretationsmustern. Die Verwirklichung eines Lebensstils, bei dem das Individuum Verantwortung für sich, seine soziale und natürliche Umwelt übernimmt und sich als Teil eines göttlichen Schöpfungsplanes erlebt, wird zum Ausdruck von Heilung im Sinne von Bewussteinswerweiterung.
1.2 Unkonventionelle Methoden:
Es gibt hunderte von unkonventionellen Heilweisen, die auf schamanischen Traditionen (Heilen mit Steinen/Kristallen, Feuerlauf, Schwitzhütte, Visions-suche, Trommeln, Gebrauch psychotroper Heilpflanzen wie Peyote, Ayahuasca, Hanf, nächtliche Heilrituale) oder fernöstlichen Techniken (z.B. Shiatsu, Yoga, hinduistische und buddhistische Meditationstechniken, Tantra, Reiki) beruhen, ferner moderne Entwicklungen wie Rebirthing, Bioenergetik, Watsu und andere Wassertherapien, sowie eher manipulative Körpertherapien (z.B. Re-balancing, Rolfing, Feldenkrais, Alexandertechnik, Esalenmassage, (vgl. LUKO-SCHIK & BAUER 1993). Den Berichten in esoterischen Zeitschriften (z.B. Esotera, Connection, Dao, Der Heiler, Bio, Natur und Heilen) ist zu entnehmen, daß unablässig in synkretistischer Praxis neue Seminartypen entworfen werden, ein Buch dazu geschrieben, ein Verein gegründet und schließlich ein Ausbildungssystem mit „Zertifikat“ entwickelt wird.
1.3 Die örtlich-räumliche Allokation der therapeutischen Ressourcen:
Die Angebote zu psychosozialer Unterstützung, Therapie, Beratung und Krisenintervention finden sich in einem stetig wachsenden Masse im Rahmen von privaten Zentren, Erwachsenenbildungseinrichtungen (Volkshochschulen, kirchliche Bildungswerke), Gesundheitshotels oder in Urlaubsangeboten ins aussereuropäische Ausland (Gesundheitstourismus). Eine Integration in psychosomatische oder psychiatrische Kliniken ist erst in Einzelfällen zu beobachten. Wie meine schriftliche Befragung der ärztlichen Leiter von 314 psychiatrischen und psychosomatischen Kliniken in Deutschland ergab (ANDRITZKY 1996), hat sich das Spektrum der Therapie-Methoden zweifelsfrei erweitert, es gibt Musik- und Beschäftigungstherapie, Gruppentherapie und Gymnastik, die Kliniken haben Badeab-teilungen mit Massagen etc., ein erheblicher Teil der klinischen Psychologen und Ärzte praktizieren das Katathyme Bilderleben oder Tanztherapie. Aus Klientenperspektive handelt es sich in der Praxis jedoch um eine Aneinanderreihung von Methoden, die in einem rigiden, auf Anpassung und Unterordnung basierenden Setting zur Anwendung kommen. Umgangsformen, welche auf Achtung von Autonomie und Persönlichkeit der Klienten beruhen, spielen im Klinikalltag kaum eine Rolle.
1.4. Auch die zeitliche Allokation der Angebote unterscheidet sich vom formellen Medizinsy-stem mit ärztlichen Sprechzeiten tagsüber, sonst Notdiensten. Typische Angebotsformen sind wöchentlich stattfindende Abendseminare, Wochenend-workshops, ein- oder zweiwöchige In-tensives, Jahresgruppen (meist sechs Wochenblöcke) , Urlaubsangebote, Veranstaltungen zu Übergängen im Jahreslauf (Sylvester-, Oster-, Pfingstgruppe, Sommerfestival etc.) oder bei biographischen Passagen (Geburt, Tod, Trauer, Partnerschaft/ Sexualität, Arbeitslosigkeit etc). Diese Belastungssituationen wurden von der life-event-Forschung als pathogen erkannt, die orthodoxe Medizin wartet jedoch solange untätig ab, bis jemand somatisch oder psychisch manifest erkrankt.
1.5 Persönliche Ressourcen:
Wie zu Beginn des 19. Jh. die Naturheilbewegung, (vgl. ROTH-SCHUH 1983) durch Laien inspiriert wurde, so sind es auch heute oft Angehörige künstlerischer und pädagogisch tätiger Berufsgruppen, welche neue Heilweisen entwickeln und kaum etablierte Kliniker.
1.6. Weitere Kulturelemente sind eine eigene Sprache (z.B. „loslassen, verkopft, Energie, Chakras“), Musik (z.B. Weltmusik, Ethno, Ambient, House, Space, Trance, Techno), die besondere Rolle des Ortes eines Zentrums, Rituals, Ereignisses (z.B. an Kraftorten, vorchristlichen Heiligtümern, Gestaltung nach geomantischen Regeln des Fengh-Shui), Kunstwerke (z.B. ethnisch-religiöse Kunst; Bilder und Plastiken, die spirituelle Erfahrungen, Visionen, charismatische Gestalten oder Geistwesen zum Inhalt haben), Ernährung (z.B. Vollwert, vegetarisch), Verhaltensregeln (z.B. über sich sprechen, ungezwungener Körperkontakt, Schuhe ausziehen, politisch „grüne Orientierung“).
Die hier skizzierten Momente lassen bereits eine zur Schulmedizin unterschiedliche „nicht-klinische“ Einstellung erkennen: im workshop-Setting spielt das Erheben von Anamnesen (biographisch, nosologisch, sozial, Familie) vor dem Hintergrund anderer Ätiologiemodelle (z.B. „Energieblockade im feinstofflichen Körper“, „karmische Belastung“) ebensowenig eine Rolle wie Diagnosen oder ein Behandlungsplan. Auch bei somatisch imponierenden Symptomen und „Krankheiten“ steht der psychosozial-lebensgeschichtliche und religiös-spirituelle Bedeutungsgehalt im Vordergrund. Die fehlende Etikettierung der Teilnehmer als „Patienten“ ist begleitet von einem im Gegensatz zum unpersönlich-distanzierter Umgangsstil in medizinischen Einrichtungen eher persönlich-freundschaftlichen Umgangsmodus.
2. Teilnehmerkreis der informellen Gesundheitskultur:
Über Motivationen, Glaubensmuster und soziodemographische Charakteristika der Teilnehmer lagen bisher ebensowenig Untersuchungen vor, wie zur Gesundheitsrelevanz der Angebote des informellen Sektors. 1994-96 führten wir daher nach explorativen Intensivinterviews mit Seminarteilnehmern in einer Großstadt eine breit angelegte Befragung von N=1135 Teilnehmern von Kursen/Seminaren zu Aerobic, Yoga, Körpertherapien, psychohy-gienischen und esoterischen Seminaren (Reiki/Blütenessenzen) durch (ANDRITZKY 1997). Einige Ergebnisse:
2.1. In ihren soziodemographischen Merkmalen sind die Teilnehmer nicht repräsentativ für die Bevölkerung und für die Klientel des formellen Medizinsystems: 77% sind Frauen, altersmäßig überwiegt die Gruppe zwischen 30-50 Jahre, ältere Menschen (Hauptnutzer der Schulmedizin) sind stark unterrepräsentiert, die Arbeiterschaft ist mit 6% kaum vertreten .
2.2. Die Gesundheitsrelevanz der genannten Angebote läßt sich aus verschiedenen Indikatoren ablesen:
- hohe Relevanz der Kursteilnahme als Selbsthilfeaktivität (je nach Methode zwischen 9% und 74%),
- beschwerdespezifische Nutzung der Angebote (z.B. 28% der Teilnehmer der als „psychohygienisch“ klassifizierten Seminare gaben Partnerprobleme an, 56% Depressionen, Antrieblosigkeit, Müdigkeit, – jeweils hochsignifikant mehr als die Teilnehmer der übrigen Gruppen).
- Bei 37% aller Teilnehmer ist ein Motiv der Seminarteilnahme die Suche nach Unterstützung bei einer Gesundheitsstörung, 28% suchen Unterstützung bei der Überwindung persönlicher Schwierigkeiten,
- Von einer subjektiven Besserung nach der Behandlung ernsthafter Gesundheitsstörungen im informellen Sektor berichten wesentlich mehr Teilnehmer als solche, die deshalb Praktiker des formellen Sektors (Ärzte/Diplom-Psychologen) aufsuchten (81% vs. 54%).
- Für 71% spielt auch ein allgemeines Interesse am Kurs eine Rolle. Dies deutet darauf hin, daß die Angebote des informellen Bereichs einen attraktiven Ereigniswert besitzen, der sie von der eher angstbesetzten, zumindest jedoch unkultivierten und kalten Atmosphäre schulmedizinischer Einrichtungen (Arztpraxis, Krankenhaus) deutlich unterscheidet.
2.3. Magisch-religiöse Glaubensüberzeugungen erscheinen als das entscheidendes Agens, neue Formen des Gesundheitssuch-Verhaltens zu entwickeln: Zwischen 30% und 40% der Teilnehmer glauben an die Wirksamkeit von Fernheilung, Ritualen oder glauben an die Existenz von Geistwesen, insg. 71% glauben an ein Leben nach dem Tode. Die Glaubensmuster der New-Age-Philosophie finden hier ihr subjektiv-empirisches Korrelat.
3. Theorie und Praxis Holotroper Atemarbeit von Stan Grof
3.1. Charakteristika der Holotropen Atemarbeit:
Holotrope Therapie bezieht sich allgemein darauf, daß der westliche Mensch nur einen geringen Anteil seines psychischen Potentials und seiner Erlebensfähigkeit realisiert, die Entwicklung „quälender Symptome, die keine organische Grundlage haben, kann als Anzeichen dafür gewertet werden, daß der Mensch in seinem unauthentischen In-der-Welt-Sein einen Punkt erreicht hat, an dem dies offenkundig und somit unhaltbar wird…Ausmaß und Tiefe dieses Zusammenbruchs laufen mehr oder weniger mit der Entwicklung neurotischer und psychotischer Erscheinungen parallel“ (GROF 1994:202).
Die Holotrope Atemarbeit vollzieht sich nach einer Phase der Einstimmung, sei es durch ein Gruppenritual oder Meditation im Liegen, wobei ein Partner die Funktion des sitters einnimmt, der den Atmenden begleitet und für alles Notwendige während der Sitzung sorgt. Nach einer Entspannungsphase erfolgt die Aufforderung, die Atmung zu intensivieren, sich von der an-fangs rhythmisch-energetisierenden, später dramatischen und in der Endphase eher meditativruhigen, evokativen Musik tragen zu lassen und für alle aufkommenden Empfindungen zu öffnen („atme, bis es dich überrascht“).
Gegen Ende der zwischen zwei- und dreieinhalb Stunden dauernde Sitzung unterstützt eine besondere Form der Körperarbeit die Auflösung unabgeschlossener Erlebenskomplexe. Anschließend sollen die Erfahrungen in einem Bild, zumeist einem Mandala dargestellt werden. In einer Nachbesprechung (sharing) werden die Erfahrungen meist anhand der Mandalas mitgeteilt, wobei nicht ihre Interpretation, sondern allein das ungeteilte Interesse der Gruppe von Bedeutung ist. Dabei geht es nicht um reduktionistische Deutung, sondern darum, das Erlebte auf amplifizierende Weise in grössere Zusammenhänge zu stellen oder in Motivkomplexen aus religiösen Kosmologien anderer Kulturen zu spiegeln.Wie nach LSD-Sitzungen (vgl. GROF 1994b:212) ist in der Endphase der Atemsitzung die Externalisierung der Erfahrung im Malen oder ggf. bioenergetischen Übungen angebracht, um eine „Gestalt zu schließen“.
Die Klienten erfahren eine ausführliche Vorbereitung auf die möglicherweise auftretenden Re-aktionen, z.B. daß eine Intensivierung bestehender Symptome (somatischer oder psychologischer Art) im Verlauf oder nach einer Sitzung nicht als Zeichen einer „Verschlimmerung“ oder gar eines Fehlschlages zu verstehen ist, sondern anzeigt, daß er sich einer für ihn wichtigen Erfahrung nähert.
Das Erleben während der Atemsitzungen geht gelegentlich mit heftigen emotionalen und phy-siologischen Reaktionen wie Erstickungsanfällen, starken Hitze- und Kälteempfindungen, Übelkeit und Erbrechen, Veränderungen der Gesichtsfarbe, spontan auftretenden Hautauschlägen, Zuckungen und Zittern oder Verkrümmungen des Körpers einher. Während selbstregulativ wie durch ein „Radar“ das in emotionaler Hinsicht gerade bedeutsame Material verstärkt und an die Oberfläche gebracht wird (GROF 1994:25ff), spielen weniger Erinnerungen wie in der Psychoanalyse eine Rolle, sondern die vollständige erlebensmäßige Rückkehr in jene Entwicklungsstufe, in der die Ereignisse stattfanden. Wie sich heraustellte, gewinnen neben den Phasen des Geburtsprozesses alle körperliche Traumata wie Operationen, Erstickungsgefühle wie bei Keuchhusten, Beinahe-Ertrinken oder bedrohliche Krankheiten dabei eine viel größere Rolle für die Entstehung psychopathologischer Erscheinungen und Schmerzzustände als dies bislang angenommen wurde.
Relevanz und Bedeutung des Erlebten sind bei diesem selbstregulativen Prozess dem Atmer unmittelbar zugänglich, die heilende Instanz liegt nicht bei einem Therapeuten, der das Erleben interpretiert und hinterfragt, sondern in ihm selbst („the healer is within“). Der Therapeut wird zum Begleiter (facilitator), der einen sicheren Rahmen für die Erfahrung schafft und dem Atmer – wenn notwendig – emotionale Unterstützung durch Körperkontakt und/oder -arbeit bietet.
3.2. Grundannahmen: die perinatalen Matrizen. Ausgehend von den unter Einfluß psychedelischer Substanzen wie LSD und Psilocybin beobachtbaren Bewußtseinsinhalten und Erlebensweisen ent-deckte GROF (1994) eine „Kartographie der Psche“, welche über die in der Psychoanalyse beschriebenen biographischen Aspekte hinaus eine perinatale und transpersonale Dimension umfasst. Diese Erfahrungsebenen, wie sie auch bei schamanischen Methoden der Tranceinduktion (Trommeln, montones Tanzen, Fasten, Isolation) oder bei Nahtoderlebnissen auftreten, stehen mit den von GROF (1994: 30ff) als die vier perinatalen Matrizen (I-IV) bezeichneten Phasen des Geburtsprozesses in Verbindung. Sie umfassen (stark verkürzt) folgende Erlebenskonstellationen (positive bzw. negative Ausprägungen):
- das amniotische Universum (I): ungestörtes intrauterines Dasein, Einheitserleben, „Paradies“ vs. Bilder von verschmutzten Gewässern, Wüsten, Einöden, unheilvolle astrale Einflüsse.
- kosmisches Verschlungenwerden/Ausweglosigkeit (II): Einsetzen der biologischen Geburt; Störungen der intrauterinen Harmonie durch chemische Signale, Gebärmutterkontraktionen: Empfindungen des Erdrücktwerdens, Hölle, Visionen des Weltuntergangs, Atemnot
- der Kampf vor Tod und Wiedergeburt (III): Bewegung des Fötus durch den Geburtskanal: Motive titanischer Kämpfe, Kriege, Blutopfer, Naturkatastrophen, Folter
- Tod und Wiedergeburt (IV): biologische Geburt: Steigerung von Angst, Schmerzen, Druck, gefolgt von plötzlicher Erleichterung und Entspannung; Aufgabe aller früheren Bezugspunkte im Leben, Ende eines Überlebenskampfes, Visionen blendenden Lichts,
- Erlösung, Befreiung, Ende von Kriegen, Revolutionen, übernatürlich schöne Landschaften, Offenbarungen von göttlichen Wesen aus verschiede-nen Kulturen. In den Totenbüchern verschiedenster Kulturen und Epochen finden sich diese Motive ausgearbeitet (GROF 1994a).
Empfindungen, Emotionen, Erinnerungen und Erlebnisse können dabei in Konstellationen (systems of condensed experience, COEX) auftauchen, welche Inhalte aus perinatalen, transpersonalen und biographischen Ebenen beinhalten (z.B. biographische Ereignisse, mythologische Motive, die Identifikation mit einem Tier, einer Rasse, ein Gefühl, bei dem der Atmende gleichsam alle analogen Empfindungen der Menschheit erlebt, oder die Begegnung mit einem Archetypus).
Zur Holotropen Atemarbeit gehört weiterhin bedingungslose und liebevolle Akzeptanz aller auftretenden Empfindungen und Erfahrungen, bei Schmerzen auch ihre systematische Verstärkung bis hin zum Unerträglichen. Dies wird zum Tor, sie „loszulassen“, sich ihrer Energie entweder rein energetisch-kathartisch zu entledigen oder im Aufsteigen von Bildern und Ereignissen blitzartig ätiologische und finale Sinnzusammenhänge zu erken-nen. Während in der Atemarbeit mit dem Auftreten von „Symptomen“ also der Prozess der Heilung beginnt ist dies im psychiatrischen Denken, wo der Patient (was im Sinne von Widerstand und Abwehr oft auch dessen eigenes Ziel ist) in den Ausgangszustand zurückversetzt werden soll, genau umgekehrt.
3.3. Kontraindikationen:
Herzprobleme, epileptische Anfälle und erhöhter Augeninnendruck sind wichtige Kontraindikationen. Ebenso vermehren borderlineartige psychotische Episoden und frühere psychiatrische Hospitalisierungen das Komplikationsrisiko, das im stationären Setting bei entsprechender Empathiefähigkeit des Teams jedoch aufgefangen und als Wachstumsimpuls wirksam werden kann. In Gesprächen, die ich im Rahmen der Fortbildungsmodule mit S. Grof führte, drückte er seine Überzeugung aus, daß das holotrope Atmen bei paranoiden Reaktionen wenig Erfolg brächte, da dann der facilitator als reale Person noch bedrohlicher erlebt würde, ebenso sei eine ausgeprägte Tendenz zu externaler Ursachen-Attribution ein Anzeichen, dass jemand sich nicht auf innere Erfahrungsprozesse einlassen wolle. Wichtiger als die Diagnose erschienen jedoch Strukur, Reaktionsmodi und Gesamtpersönlichkeit des prähospitalisierten Klienten: Welche konstruktiven Ich-Anteile hat der Patient zur Verfügung, steht er in einem tragenden sozialen Netzwerk, welche Rolle spielt die Blockade emotionalen Ausdrucks im Therapieprozess. Mir scheint, dass auch in den konventionellen psychiatrischen Kliniken ein ganz erheblicher Teil von Patienten (ich würde ihn wenigstens auf 50% schätzen) die Merkmale einer spirituellen Krise aufweist, bei der ein Bewusstsein der Symptome als innerer Erfahrung bestehen bleibt und die Ursachen nicht ausschliesslich Ereignissen der äusseren Welt zugeschrieben werden (vgl. GROF & GROF 1991:69ff).
Die Indikation zu holotroper Atemarbeit resultiert also aus der Zusammenschau dieser Bedingungsmomente von Institution und Klientenpersönlichkeit, und selbstverständlich dem Kontakt zum Therapeuten, der sich nicht wie im informellen Bereich eher nach Sympathie, sondern aufgrund des üblichen stationsinternen Zuweisungssystems ergibt.
Wesentlich für die Indikationsfrage erscheint in einer Klinik auch die empathische Kompetenz des Pflegepersonals eines Teams. Wenn es, wie dies zumindest in der Psychiatrie die Norm darstellt, auf starke Emotionen mit Angst reagiert, die Reaktionen des Patienten als „Verschlimmerung“ interpre-tiert und den Arzt dann zu Medikationen animiert, erscheint holotrope Arbeit längerfristig kaum realisierbar. Idealerweise sollte das Team über entsprechende Selbsterfahrung verfügen. Da dies nicht der Fall ist, kann anfänglich die stille Anwesenheit bei Atemsitzungen Kooperation und ein erstes Einfühlen in die Prozesse fördern, insbesondere beim Bezugspflegesystem, wo eine Pflegekraft bestimmten Patienten zugeordnet ist.
Autor: Dr. Walter Andritzky
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