Akupunktur und Drogenentzug
Der bekannte Hongkonger Neurochirurg Wen entdeckte durch Zufall, daß Ohrakupunktur die Symptome beim Drogenentzug verbessert.
Dies wurde, wie im Kapitel zur klinischen Forschung eingehender dargestellt, in verschiedenen klinischen Untersuchungen erfolgreich reproduziert und auch praktisch genutzt.
Was den Grundlagen-Aspekt dieses Phänomens betrifft, so spekulierten verschiedene Autoren, daß dieser Effekt durch Endorphin vermittelt sei [170].
In einer Studie mit 30 Heroinabhängigen zeigten die Blut- und Liquorspiegel von ß-Endorphin unter Akupunktur keine Veränderung, was für eine alterierte Reaktionslage der Opiatsüchtigen gegenüber den Normalpersonen spricht [209].
Man kann vermuten, daß das Endorphinsystem lahmgelegt wird durch das Heroin im Blut, welches ein negatives Feedback auf die Endorphin-Autorezeptoren ausübt.
ACTH- und Cortisolspiegel werden bei Süchtigen in der Entzugsphase durch Akupunktur gesenkt, was die Reduktion von Stress und Entzugssymptomatik widerspiegelt [207].
Bei Mäusen gelang es, den Gesamtgehalt des Gehirns an ß-Endorphin zu bestimmen; dieser ließ sich, unter Entzug, durch Akupunktur vermehren (während der Plasmaspiegel unbeeinflußt blieb).
Außerdem wurden die Entzugssymptome bei diesen Mäusen durch Akupunktur gemindert, ein Ergebnis das sowohl durch unser eigenes Team [36] als auch durch andere mit Ratten reproduziert werden konnte [68 e, 127].
In Studien mit Drogensüchtigen konnte hingegen der Liquorspiegel des Metenkephalin durch EA erhöht werden [40 a].
So ist das Bild derzeit noch verwirrend, vielleicht auch aufgrund der komplexen Natur der Drogensucht.
Zu beachten ist auch die Unterdrückung vegetativer Entzugssymptome durch EA.
Studie Drogenentzug bei Alkoholikern
Die vielleicht eindrucksvollste Studie war die kürzlich von Bullock vorgelegte [17 b], der chronische Alkoholiker mit Ohrakupunktur behandelte; von 50 Patienten erhielten 25 drei Nadeln in echte Ohrakupunkturpunkte, und 25 erhielten drei („sham“-)Nadeln in falsche Ohrpunkte (Pseudoakupunktur).
Obwohl ihnen Alkohol ad libitum angeboten wurde, blieben unter echter Akupunktur 42% der Alkoholiker 3 Monate alkoholfrei und weitere 28% tranken weit weniger als sonst (also eine gesamte Erfolgsquote von 70%).
Die Akupunktur verminderte offenbar das Bedürfnis selbst und unterdrückte nicht allein die Entzugssymptome. Die Pseudoakupunktur beim Drogenentzug hatte keine Wirksamkeit.
Bullock et al. [17 c] reproduzierten kürzlich diese Studie mit 80 Patienten und ähnlichen Ergebnissen, andere Studien laufen derzeit in mehreren anderen Zentren.
Metaanalyse von Studien über die Wirksamkeit von Akupunktur bei Suchterkrankungen
An dieser Stelle sollten wir eine kürzlich publizierte Metaanalyse von 22 Studien über die Wirksamkeit von Akupunktur bei Suchterkrankungen erwähnen.
Ihre Schlußfolgerung war, daß „die Behauptung, daß Akupunktur als Therapie für diese Suchterkrankungen wirksam sein soll, nicht durch Ergebnisse guter klinischer Studien gestützt wird“ [187 a].
Die „Müll hinein — Müll heraus“-Kritik, die oben für eine Metaanalyse der Schmerzstudien zitiert wurde, trifft auch hier zu.
Sind 20 schlechte Studien geeignet, 2 gute Studien zu widerlegen? Warum waren Anordnungen wie „kombinierte Akupunktur plus intensive Psychotherapie“ nicht als Einschlußkriterium in die Metaanalyse vorgegeben?
Hier sind weitere Arbeiten unbedingt erforderlich!
Seit diese Metaanalyse vorgelegt wurde, hat das US-amerikanische NIDA (National Institute of Drug Abuse) starkes Interesse gezeigt, kontrollierte klinische Studien über Akupunktur zur Suchtbehandlung zu finanzieren.
Dies hängt damit zusammen, daß weltweit der Einsatz von Akupunkturbehandlungen gegen Opiat- und Kokainsucht stark zugenommen hat.
Basierend auf dem erfolgreichen Behandlungsprogramm, das von Michael O. Smith am New Yorker Lincoln Hospital während der 70-er-Jahre entwickelt wurde, sind weltweit über 400 Behandlungszentren gegründet worden [175 a, 16 f].
Die Behandlungsstrategie verbindet tägliche halbstündige Akupunkturbehandlungen mit Gruppenpsychotherapie.
Verschiedene Rechtsinstanzen in Amerika stellen Drogenabhängige bereits vor die Wahl: Akupunkturbehandlung oder Haftstrafe.
Gestiegenes Interesse an Akupunktur zur Behandlung von Drogenentzug und Suchterkrankungen
Das gestiegene Interesse an Akupunktur zur Behandlung von Suchterkrankungen hat zu mehreren neuen Übersichtsarbeiten geführt [16 g, 41 a, 118 a, 125 a].
Diese Arbeiten stimmen alle darin überein, daß trotz der positiven und sehr überzeugend erscheinenden kasuistischen Berichte zu diesem Gegenstand, zum Beispiel von Margolin [110 a] und Konefal [86 a], weitere randomisierte kontrollierte Studien erforderlich sind, um die Wirksamkeit der Behandlung zu sichern.
Die Verwendung von Pseudoakupunktur am Ohr bedeutet hier ein ernsthaftes Problem für das Studiendesign, da die Placebogruppe hier partielle Verum-Wirkung erfährt (meist wird etwa 5 mm vom echten Punkt gestochen) [100 a].
Die National Acupuncture Detoxification Association, NADA, die 1985 in den USA gegründet wurde, hat heute mehr als 4000 Mitglieder, die Akupunktur zur Behandlung von Drogenentzug/Suchterkrankungen anwenden.
Die von der Regierung geförderten Studien zu diesem Thema sollten in Kürze Ergebnisse zeitigen.
Ess-Sucht und die Behandlung mit Akupunktur
Zum Abschluß ein paar Worte zur Behandlung der Ess-Sucht mithilfe von Akupunktur.
Unglücklicherweise gibt es kaum ordentliche kontrollierte Studien zu Akupunktur gegen Fettleibigkeit.
Jedoch ergab eine neuere Studie mit Ratten ein vielversprechendes Ergebnis: Unter Ohrakupunktur reduzierte sich das Gewicht übergewichtiger Ratten auf normale Werte, während Pseudoakupunktur keine Wirkung zeigte.
Darüberhinaus zeigten elektrophysiologische Messungen im Sattheits-Zentrum (d.i. der hypothalamische Nucleus retromedialis — HVM) evozierte Potentiale bei Anwendung der echten Akupunkturpunkte, jedoch keine Reaktion bei den Pseudopunkten.
Schließlich führten Verletzungen des HVM zu einer Anullierung der gewichtsreduzierenden Akupunkturwirkung [6 a].
All dies spricht dafür, daß Ohrakupunktur das Sattheits-Zentrum stimuliert, und damit bei Ratten Fettleibigkeit bekämpft werden kann. Studien mit Menschen zu diesem Thema sind jetzt zu fordern.
Autor: Prof. Bruce Pomeranz
University of Toronto
25, Harbord Street
Toronto, Canada
Aus: Stux, Stiller, Pomeranz (1999); Akupunktur – Lehrbuch und Atlas, 5. Auflage, Springer Verlag, Berlin Heidelberg New York
Quelle: www.akupunktur-aktuell.de
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